Die Stille (fm:Verführung, 3201 Wörter) | ||
Autor: testsiegerin | ||
Veröffentlicht: Mar 18 2013 | Gesehen / Gelesen: 27373 / 23827 [87%] | Bewertung Geschichte: 9.09 (126 Stimmen) |
Im Zug trifft Oliver, der grad von Schweigeexerzitien kommt, auf eine nervende, redseelige Rothaarige. Doch als sie den Rock höherschiebt und die Einblicke, die sie freigibt, nicht nur verbaler Natur sind, nervt sie ein bisschen weniger. |
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Der dicke Glatzkopf hörte auf an seinem Ohr zu kratzen und erhob sich, griff nach seinem schwarzen Köfferchen und verließ das Abteil. Nun waren wir noch zu dritt und die Rothaarige hatte ihre Seite für sich allein. Sie kramte in der Tasche und holte nacheinander ein Buch, einen Laptop, eine Zeitung, eine Mineralwasserflasche, einen Taschenspiegel, ein Glas Marmelade, ein Handy und einen Lippenstift heraus, verteilte alles wahllos auf den Sitzen zu ihrer Rechten, betrachtete es mit prüfendem Blick und dachte offensichtlich nach. Die junge Frau neben mir seufzte zum soundsovielten Male und drückte auf ihrem MP3-Player herum.
Draußen zog die Landschaft an mir vorüber. Obwohl - in Wahrheit zog ich an der Landschaft vorüber, sie blieb, wo sie immer schon gewesen war. Der Mensch nimmt sich so wichtig, dass er glaubt, alles bewegt sich rund um ihn, obwohl nur er selbst es ist, der keine Ruhe findet. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als die Rothaarige sich erst die Lippen bemalte und aufeinanderpresste, das überschüssige Rot in einem Taschentuch abtupfte, einen Schluck aus der Flasche nahm, die Lippen abermals nachzog, den Laptop aufklappte und zur Zeitung griff. Ich stellte sie mir in dem Kloster vor, aus dem ich gerade kam. Sie hätte die Schweigeexerzitien vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde durchgehalten. Schweigen im Kloster bedeutete nämlich nicht nur, nichts zu sprechen, sondern auch das Tun auf das Notwendige zu reduzieren. Ins Innen zu schauen anstatt in den Fernseher, nichts lesen, nichts schreiben.
Das Handy der Rothaarigen tat das, was es schon ein paar Mal getan hatte und offensichtlich immer wieder tun musste. Es läutete und spielte eine blecherne Melodie aus den Charts. Sie kramte in der Handtasche, obwohl das Handy immer noch auf dem Polster neben ihr lag, allerdings versteckt unter der Zeitung. Ich hätte ihr das natürlich sagen können, aber ich wollte nicht in ihre Welt eingreifen und das darin herrschende Chaos zerstören. Vor allem wollte ich nicht, dass sie schon wieder minutenlang telefonierte.
Meine Wünsche wurden erhört und Lady Gaga war mit dem Dudeln fertig, noch bevor die Rothaarige fündig geworden war. Was hat dich bloß so zynisch werden lassen, Oliver?, fragte ich mich, obwohl ich die Antwort natürlich kannte. Mein Beruf war mir längst keine Berufung mehr, in meiner Ehe hatte Routine die Leidenschaft rechts überholt, ich ging auf die Fünfzig zu, und stellte mir die Frage nach dem Sinn. Im Kloster hatte ich zwar nicht die erhoffte Antwort, aber zumindest Ruhe gefunden.
Eine Woche lang hatten Stille, Leere und Gebete mein Leben bestimmt. Das und die bescheidene und gelassene Zufriedenheit der Mönche hatten mich in einen Kokon gehüllt. Ich wollte diese Stille noch ein wenig genießen, bevor die Hektik des Alltags und die Erwartungen meiner Frau, meiner Kinder und meiner Kunden mich wieder in den Würgegriff nehmen würden. Ich mahnte mich zu mehr christlicher Toleranz und entschuldigte mich bei meinem hyperaktiven Gegenüber für meine gehässigen Gedanken mit einem freundlichen Lächeln. Mein freundliches Lächeln wurde ebenso freundlich erwidert. Freundlich und ein bisschen überrascht, so als hätte sie mir ein freundliches Lächeln gar nicht zugetraut. Die einwöchige Askese hatte dazu geführt, dass meine Regungen und meine Mimik sich auf ein Minimum reduziert hatten. Bestimmt würde ich am nächsten Tag Muskelkater vom vorübergehenden Lächeln haben.
"Shit, ey, shit!" Das Mädchen neben mir war unsanft aus ihren MP3-Träumen erwacht und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ein schriller Pfeifton war zu hören. "Boah, ey, nee." Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf dem pinkfarbenen Kästchen herum und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Ich schwieg.
Die Rothaarige natürlich nicht. "Aber, aber, aber..." murmelte sie, während sie ihren Kopf in der Handtasche vergrub und ein Kabel hervorzauberte. "Hier, das müsste eigentlich passen. Und hier", sie klappte die Armlehne hoch, "ist eine Steckdose. Hab ich auch erst vor kurzem entdeckt." Sie trug anscheinend ihren halben Hausrat in der Tasche und ihr ganzes Herz auf der Zunge. Ungefragt, und wohl auch unerhört - denn die junge Dame hatte ihre Ohren wieder zugestöpselt - erklärte sie, dass sie immer wieder mal Handys und Ladekabel in Hotels vergesse und deshalb sicherheitshalber stets Reservehandys und -kabel bei sich hatte.
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