Lasterhafte Etüden / Teil 8 (fm:Dominante Frau, 1521 Wörter) [8/8] alle Teile anzeigen | ||
Autor: Annunzi | ||
Veröffentlicht: Sep 20 2020 | Gesehen / Gelesen: 6152 / 5414 [88%] | Bewertung Teil: 8.70 (10 Stimmen) |
Die Herrin Rosi schließt den Sklaven aus. Die Suche nach dem MEHR beginnt. |
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mich.
Ich setzte mich neben sie und zeigte ihr ein paar Noten: "Also gut", ich nahm einen Bleistift und empfand ihre Nähe als Glück, "Siehst du, was steht da, was ist das?", fragte ich sie. Fast kindlich lächelte sie ein wenig: "6/4?" Ich versuchte zu lachen: "Ja; 6/4 - ist ja mathematisch 3/2 - und dennoch: drei Halbe Bier sind was ganz anderes als 6/4. Von drei Halben bekommt man eine volle Blase, bei diesem 6/4 fliegt man." Ich spürte, dass ihr das gefiel. Endlich etwas anderes als die Demütigungen von Rosi und Porshea und William. Etwas anderes als die Jeans Lügen und das würdelose Leben von Jimmy, das er gar nicht verdient hatte, weil er eigentlich ein liebenswerter Mann war.
Ich musste um Kerstin kämpfen, jetzt oder nie: "Wenn du diese Noten dirigierst, dann darfst du sich nicht wie einen Walzer dirigieren, auch nicht wie einen militärischen Marsch, du musst fliegen, mit deinen Armen fliegen, mit deiner Seele fliegen, siehst du so!" Ich zeigte ihr, die befreienden Bewegungen, die Flügelschläge, die ich meinte. Ihr Gesicht erhellte sich ein wenig.
Ich durfte jetzt nicht nachlassen, setzte mich wieder zu ihr: "Schau, was steht da?" "Fagott", antwortete sie und lächelte schon fast. "Weißt du noch, was ich dir über die Klangfarbe des Fagotts einmal sagte?" "Ich habe es vergessen"; gestand sie lachend. "Es steht für Geheimnis. Hier siehst du also den Klang und die Erzählung einer geheimnisvollen Sache: D;Cis;H;A;G;Fis -> Takt 1 E;Fis;G;A;H;Cis -> Takt 2 D;E~E;Fis;E~E -> Takt 3!"
Ich war nicht der beste Sänger, aber jetzt sang ich um mein Leben. Ich sang es nochmal, ganz leise und zärtlich und geheimnisvoll: D;Cis;H;A;G;Fis E;Fis;G;A;H;Cis D;E~E;Fis;E~E ."
Ich atmete tiefer. Es gefiel ihr: "Und dann hier: Takt 4 und 5. Nun übernimmt die Violine: D;D;E;Fis~Fis;Gis;A~A~A~A~A". "Die Violine kann für vieles stehen!", erinnerte sie sich, "Für die reine Liebe, für den seelischen Schmerz, für Trost oder Trostlosigkeit", sie kuschelte sich an mich. "Schön, dass du dich erinnerst. Dann wieder hier Takt 5! Parallel zur Violine, hier sehr liebevoll, nimmt das unheimliche Geheimnis wieder Fahrt auf. In der Tiefe, hier der Bassschlüssel, fast väterlich beschützend: Fis; G; A, H, Cis, D."
Ich wollte eigentlich nun aufhören, um sie zu küssen, um sie nackt auszuziehen, um mit ihr zu ficken, weil ich war nun sehr geil. Aber das wäre falsch gewesen. Ganz falsch: "Und schau hier - nach all dem Schmerz und all dem Leid - plötzlich ein edler Klang, jung und edel, trotz dieser Welt, nach Freiheit strebende Harmonien. Wer könnte das besser als die glänzende Hörner. Wenige Töne, aber schwer zu spielen. Spielt man sie wie einen Kübel, ist alles vorbei - alles zerstört. Um so eine Veredlung zu realisieren braucht es Jahre; denn nur in absoluter Perfektion sind sie berührend."
Ich merkte, dass Kerstin sehr müde war, und meine Interpretationen nahm sie bestimmt nur noch verschwommen wahr, und doch war es das, was sie jetzt brauchte. Und so fuhr ich fort, automatisch redend, leise, zärtlich, liebevoll: "Fis; G; A, H, Cis, D; so also das Fagott; während die Klarinette, bereit für ein D-Moll mit seinem b, auf seine Klage wartet, auch an Robert erinnernd, in Verzweiflung springend, vom Tod bereits gerufen. Wie eigenartig, D-Moll, wäre doch die Paralleltonart H, H-Moll; und dennoch geheimnisvoll, wie alle Töne in diesem Meer, tief und passend und auch wahr im All, das doch keine Töne kennen will, weil es in seinem zerbrochenen Zustand nicht zu ertragen wäre, all dieses Leid, diese unendliche Einsamkeit, Brutalität, Kriege, Morde und Verrat. Auch deshalb umgeben sie uns, die wenigen guten Geister, um zu hören, was einmal zeitlos war, um zu fühlen, wie es nach dem Alptraum zeitlos wieder werden wird. Aber noch schweigt die Klage, muss die Violine sprechen hören, in Liebe und Melancholie, bereit auch für die schweren Zeiten: E;G;E;Fis... Dann ein: A;D;Cis;H~H. Es kommt zur Leidenschaft, Töne, die nur ein Cello strahlen lässt. So sprechen sie, die einzelnen Stimmen, und jede hat ihre Einzigartigkeit: A;G;E;D;Cis;D;C. Schauer durchdringen mich hier, weil der Kontrabass diese Leidenschaft in seiner Tiefe zum Vibrieren bringt. Nur in der Tiefe findet man sie wirklich: Vibration, Transformation. Endlich, für eine verehrte Muse, das Klavier, und bringt, wer noch nicht ganz verhärtet ist, den Glanz in große Augen.
Oh, mein Gott, wir, verdammt als Zeitzeugen unserer Zeit, verdammt dazu, uns das zu erzählen, von Clara und dem Leid, das uns täglich quält, und nur durch Lärm und Ignoranz zu ertragen ist, manchmal auch durch Leidenschaft und Sex und Liebe, was immer das auch sein mag, Liebe, die wir doch alle suchen und vermissen, bis dass das unerklärliche Meer uns zu verschlingen droht. Fliegen, fliegen wir, solange es noch geht, Klagen wir, klagen wir, so lange es noch geht, vielleicht berührt es ja doch einen guten Geist; denn wenn dieser fühlen wollen, müssen sie zu uns heruntersteigen; zu uns auf diese verdammte Erde: Sonst umgibt sie nämlich nur die Stille des Nichts..."
"Darf ich heute hier schlafen?", fragte Kerstin sehr müde. "Aber ja, ruh dich aus." "Brahms, wer kennt heute schon noch Brahms? Du bist eben verrückt."
Momente der Stille. "Würdest du mit mir von hier wegziehen, wegfliegen?", fragte Kerstin. "Ja, wenn du willst. Wohin sollen wir denn gehen?" "Weg aus diesem Moloch. Weg von dieser dominanten Frau. Nur weg von hier." "Aber wohin?" "Dorthin, wo Meer ist, dorthin, wo MEHR ist..."
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