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Vom Leben gezeichnet (fm:Sonstige, 3904 Wörter)

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Veröffentlicht: Mar 11 2023 Gesehen / Gelesen: 12933 / 9356 [72%] Bewertung Geschichte: 9.41 (174 Stimmen)
Auf die Perspektive kommt es an…

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Jan stand am Geländer und zog lang an seiner Zigarette, sein Blick auf die unzähligen Schluchten der Betonwüste gerichtet. Alles war grau in grau, wie der Tabakqualm. Nur unten am Boden einige versprengte Bäume, die, eine gewisse Schattenresistenz vorausgesetzt, dort ihr Dasein fristeten. Die wenigen Rasenflächen luden zu nichts ein. Der bleierne Himmel ein Purgatorium, das die Sehnsucht nach Erlösung verstärkte. Auch der 9 Euro Whisky aus dem Discounter, den er im Glas schwenkte, half nur minimal. Zu heftig waren die Umbrüche der letzten zwei Jahre.

Er, Jan Henke, der Mann der Stadt. Sein Möbelhaus florierend und expandierend. Alles selbst aufgebaut. Die teuersten Marken. Die besten Designer. Die High-Society sein Gast. Feste mit Champagner und Kaviar. Schöne Frauen und viel Geld. Sein Haus ein Villa. Seine Frau eine angesehene Richterin.

Sein Leben hätte nicht besser laufen können. Alles lief perfekt.

Doch dann kam Corona.

Möbel waren nicht Waren des täglichen Bedarfs, also musste er schließen. Umsatz gleich null. Der Kredit für das vor wenigen Jahren gebaute Möbelhaus war erst zur Hälfte abbezahlt und der für seine Villa noch nicht mal annähernd. Und Geld ist nicht geduldig. Die Bank gewährte keinen Aufschub.

Im Nachhinein ein Wahnsinn, alles nur auf Pump zu finanzieren. Aber damals sah er das nicht so. Da war ihm die Knechtschaft unter dem Gott des Diesseits noch nicht bewusst. Er war geblendet.

Jedenfalls verlor er alles. Frau, Villa und Möbelhaus waren nur noch Erinnerungen. Und nun lebte er hier am Rand der Stadt, marginalisiert in seiner 2-Zimmer Wohnung. Mittellos, hoffnungslos, ungesehen und ungehört, wie die tausenden Anderen um ihn herum.

Er schaute nach unten auf die Straße und erblickte das sich nähernde Postauto, schnippte dann die Zigarette weg und machte sich auf den Weg. Er ging die Treppen immer zu Fuß, denn wenn er völlig außer Atem wieder oben ankam, wusste er wenigstens, dass er noch am Leben war.

Er ließ sich auf die Couch fallen und ging die Post durch.

Den Brief von der Bank warf er gleich auf den Wohnzimmertisch. Heute wollte er von denen nichts wissen, ansonsten kletterte er womöglich noch übers Geländer und sprang. Die Werbung vom Discounter. Oh, sein Whisky war im Angebot für nur 6,99€. Das musste er sich merken.

Und der Lokalanzeiger. Ein Sammelsurium aus Geschichten der Stadt, Werbung, Suche-/ Biete- und Sterbeanzeigen. Er blätterte durch die Zeitung und stieß auf ein großes Porträt einer rothaarigen und irgendwie wild aussehenden Frau. Sie hieß Olga Martinowa, war 53 Jahre alt und auf einer ganzen Doppelseite wurde ihr Leben und Wirken als Künstlerin dargestellt. Das interessante jedoch war die Information, dass sie demnächst einen neuen Kurs für Aktmalerei anbot.

Hm, dachte Jan. Das wäre doch mal etwas völlig Neues. Er nahm sein Handy, suchte ihre Nummer im Netz und wählte. Nach dem fünften Mal Klingeln hörte er eine gebrochen deutsch sprechende Frau mit dem typisch osteuropäischen Akzent. "Olga Martinowa." "Ja, Henke hier, Jan Henke. Ich rufe an wegen des Aktmalkurses und ich..." Sie unterbrach ihn: "Tut mir Leid Herr Henke, aber der Kurs ist ausgebucht." "Oh", er war ein wenig perplex und schwieg einen Moment und bevor er weitersprechen konnte, sagte sie: "Wenn jemand abspringen sollte, melde ich mich bei Ihnen. Ist das in Ordnung für Sie?" "Ja," sagte er stockend, "klar" und im nächsten Moment hatte sie aufgelegt.

Was war das denn, fragte er sich. Aber gut, was hatte er erwartet. Wenn er es sich recht überlegte, war es eine spontane Schnapsidee gewesen. Er hatte noch nie im Leben freiwillig was gemalt, hatte auch gar kein Equipment dafür. Und dann gleich bei einer richtigen Künstlerin ein Kurs zu belegen, kam ihm plötzlich reichlich unüberlegt vor. Sie machte das wahrscheinlich jeden Tag und konnte es sich leisten, nicht jeden nehmen zu müssen. Obwohl, in der Zeitung stand, dass sie seit zwei Jahren Witwe ist und ihr Mann ein angesehener Professor an der hiesigen Uni war. Vielleicht hatte sie es doch nicht so üppig wie gedacht. Aber egal. Das hatte sich jetzt wohl erledigt.

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